Digitale Transformation an Basels Volksschulen: Rückblick auf ein Grossprojekt
Die Digitalisierung im Bildungswesen gleicht manchmal einer Expedition in unbekanntes Terrain: Man hat eine Vorstellung vom Ziel, aber der Weg dorthin ist von Unsicherheiten geprägt. In Basel-Stadt hat sich die Bildungsverwaltung vor einigen Jahren auf genau diese Reise begeben – mit einem der umfassendsten Digitalisierungsprojekte in der Schweizer Bildungslandschaft. [1][9] Als Projektleiter für Weiterbildungen hatte ich die Gelegenheit, diesen Prozess aus nächster Nähe zu begleiten. Heute möchte ich Einblicke und Reflexionen zu diesem bemerkenswerten Transformationsprozess mit Ihnen teilen.
Die Dimensionen des Wandels
Mit der Genehmigung eines 25-Millionen-Franken-Kredits durch den Grossen Rat im November 2019 setzte Basel-Stadt einen ambitionierten Plan in Bewegung. [9] Die nackten Zahlen sind beeindruckend: Über 5.500 digitale Endgeräte wurden an Lehrpersonen und Schüler:innen verteilt [4], flächendeckendes WLAN installiert [9] und ein mehrstufiges pädagogisches Begleitkonzept entwickelt. [9] Die jährlichen Betriebskosten belaufen sich auf 3,8 Millionen Franken – eine beträchtliche Investition in die Zukunft. [9]
Doch das Projekt zielte von Anfang an auf mehr als nur technische Ausstattung. Es ging um nichts weniger als eine Neuausrichtung der Lehr-Lern-Kultur. [2] Bemerkenswert ist der dreistufige Ansatz bei der Geräteverteilung:
- Poolgeräte für den Kindergarten bis zur 4. Klasse (Verhältnis 1:4)
- Persönliche eduBS-Books (Microsoft Surface Tablets) ab der 5. Primarklasse [4]
- Bring-your-own-device-Prinzip ab der Sekundarstufe II [1]
Besonders die logistische Leistung verdient Anerkennung: Allein im Schuljahr 2021/22 wurden trotz globaler Lieferengpässe 3.200 Geräte beschafft und verteilt. [4] Um diese Infrastruktur zu betreiben, wurden vier zusätzliche Vollzeitstellen für den technischen Support geschaffen. [4]
Zwischen Vision und Wirklichkeit
Bei Bildungsinnovationen beobachte ich immer wieder eine Kluft zwischen wohlklingenden Konzepten und der Komplexität der Implementierung. Das Basler Projekt macht hier keine Ausnahme. HIer ein paar Reflexionen aus meiner Rolle als Projektleiter Weiterbildung:
Die umfassende Reorganisation von ICT/TU Medien zu DIG-IT und "Digitalität und Schule" führte zu Ressourcenengpässen und Wissensverlust durch Personalfluktuation. Prozesse innerhalb der Volksschulen und zwischen dem Pädagogischen Zentrum Basel (PZ.BS) und der Volksschulleitung mussten neu definiert werden. Diese strukturellen Anpassungen liefen parallel zur eigentlichen Implementierung – was die Komplexität erhöhte.
Die Implementierungsstrategie verfolgte einen mehrdimensionalen Ansatz:
- Weiterbildungsoffensive: Individuelle Kompetenzanalysen, modulare Fortbildungen und Peer-Coaching-Programme sollten sicherstellen, dass Lehrpersonen die nötigen Fähigkeiten entwickeln. [2] Das PZ.BS führte jährlich über 120 workshop-spezifische Schulungen durch. [8]
- Mixed-Methods-Monitoring: Ein umfassendes Evaluationsframework mit quantitativen und qualitativen Indikatoren wurde implementiert, von der Gerätenutzungsdauer pro Fach bis zu Fokusgruppen mit Schüler:innen. [3][7]
- Schulentwicklungsberatung: Jede Schule erhielt 30 Stunden Beratungsunterstützung zur Gestaltung ihres individuellen Digitalisierungspfades.
Praxiseinblicke: Die Stimme aus dem Schulzimmer
Besonders aufschlussreich ist ein Blick auf die konkrete Umsetzung an der Primarschule St. Johann. Klassenlehrer Florian Dünki beschreibt, wie die eduBS-Books als Arbeitsinstrumente UND Lerngegenstände dienen. Seine Schüler:innen erstellen im Fach Natur-Mensch-Gesellschaft (NMG) Lernfilme mit Vertonung und Schnitttechniken und nutzen dafür die kostenlose Software "Shortcut". [1][2][8]
Dünki beobachtet dabei eine Entwicklung, die über rein technische Fertigkeiten hinausgeht: "Bildung ist Prävention – wir schulen verantwortungsvollen Umgang mit Medien, nicht nur technische Anwendung." Gleichzeitig betont er, dass die analoge Beziehungspflege zentral bleibt. [1][2][8]
Zu den anfänglichen Herausforderungen gehörten:
- Der Zeitaufwand für 24 individuelle Passwort-Setzungen
- Unterrichtsblockaden durch erzwungene Systemupdates
- Die Notwendigkeit einer Projektwoche zur Vermittlung von Grundkompetenzen
Diese praktischen Hürden zeigen, dass der Weg zur digitalen Transformation nicht immer geradlinig verläuft. Sie veranschaulichen die Diskrepanz zwischen theoretischer Konzeption und alltäglicher Schulrealität.
Tiefere Transformationseffekte
Die interessantesten Aspekte des Basler Projekts liegen in den beobachtbaren Veränderungen der Lehr-Lern-Szenarien. Flipped Classroom-Modelle sind inzwischen in Sekundarklassen zu finden. Adaptive Lernsoftware ermöglicht individualisiertes Üben. Virtual Reality findet Eingang in naturwissenschaftliche Fächer, und E-Portfolio-Systeme unterstützen kompetenzorientierte Leistungsnachweise. [2][7]
Die Covid-19-Pandemie wirkte als unerwarteter Katalysator: Distance-Learning-Erfahrungen beschleunigten die Akzeptanz digitaler Tools um durchschnittlich 18 Monate. [2] Diese unbeabsichtigte "Beschleunigung durch Krise" verdeutlicht, wie externe Faktoren Innovationsprozesse beeinflussen können.
Bemerkenswert ist auch die Transformation der Schulleitungsrolle. Schulleiter:innen berichten von 35% mehr Zeitaufwand für IT-Koordination und der Notwendigkeit, technopädagogische Führungskompetenzen zu entwickeln. Teilweise ist hier aber auch festzustellen, dass Schulleitungen mit dem Umgang der Geräte und den damit verbundenen notwendigen Organisationsentwicklungsschritten überfordert waren.
Fünf zentrale Erkenntnisse
Aus meiner Erfahrung des Projekts lassen sich für mich fünf Schlüssellektionen ableiten, die für ähnliche Vorhaben andernorts relevant sein könnten:
1. Balance zwischen Infrastruktur und Pädagogik
Die parallele Entwicklung von technischer Ausstattung und pädagogischen Konzepten war entscheidend. Technik allein bewirkt keinen Wandel – erst die Einbettung in durchdachte didaktische Szenarien schafft echte Integration der digitalen Medien im Lehr- und Lernprozess.
2. Differenzierte Kompetenzentwicklung
Die Ausrichtung am europäischen Digital Competence Framework for Educators (DigCompEdu) und der Selbstevaluation Medien und Informatik ermöglichte eine strukturierte und zielgerichtete Kompetenzentwicklung.
3. Adaptionsfähigkeit des Systems
Die wahre Stärke des Projekts liegt nicht in der blossen Geräteausstattung, sondern in der neu geschaffenen Anpassungsfähigkeit des Schulsystems. Basel-Stadt hat nachhaltige Strukturen etabliert, die kontinuierliches Lernen und Arbeiten mit digitalen Medien ermöglichen.
4. Dezentrale Implementierung
Der Verzicht auf eine strenge Standardisierung der Schulentwicklungsprozesse ermöglichte standortspezifische Lösungen. [2] Jede Schule konnte ihren eigenen Weg zur Nutzung der Digitalisierung finden – was Innovation und Ownership förderte, aber die Vergleichbarkeit erschwerte.
5. Nachhaltige Integration
Die systematische Überführung in den Regelbetrieb mit fortlaufenden Weiterbildungen zu digitalen Kompetenzen, Integration in die Fachberatung und kontinuierlicher Support sichert die Nachhaltigkeit des Projekts. [8]
Ausblick und offene Fragen
Das Erziehungsdepartement formuliert für die zweite Projektphase 2025-2030 ambitionierte Ziele: 100% papierlose Verwaltungsprozesse bis 2027 [6], KI-gestützte Lernanalysesysteme ab 2026 und eine kantonale Cloud-Lösung für kollaboratives Arbeiten. [6][8]
Doch trotz aller Erfolge bleiben zentrale Fragen offen:
- Welche ethischen Dimensionen müssen bei algorithmischen Lernsystemen bedacht werden?
- Wie gelingt die Balance zwischen digitaler Innovation und bewährten analogen Praktiken?
- Inwiefern verändert die digitale Transformation die Rolle der Lehrperson langfristig?
- Wie können Lehrpersonen nachhaltig in der Anwendung neuer Lehr- und Lernformen gefördert werden?
Diese Fragen werden die Bildungslandschaft weit über Basel hinaus beschäftigen. Das Basler Projekt zeigt exemplarisch: Nachhaltige Digitalisierung gelingt nur als Gemeinschaftsaufgabe von Politik, Verwaltung, Schulen und Forschung.
Das Projekt feiert seine Abschlussveranstaltung am 20. Februar 2025. Doch tatsächlich steht Basel erst am Anfang einer tiefgreifenden Transformation des Lernens und Lehrens. Der wahre Erfolg wird sich daran messen lassen, inwieweit die digitalen Werkzeuge zu einem selbstverständlichen Element einer zeitgemässen Bildung werden – ohne dass der Mensch aus dem Mittelpunkt rückt.
Dieser Beitrag basiert auf Daten und Erkenntnissen aus dem Digitalisierungsprojekt der Volksschulen Basel-Stadt sowie der Projektschlussbeurteilung des Erziehungsdepartements. Die genannten Zahlen und Fakten sind den offiziellen Projektdokumenten entnommen.
Quellen:
[1] Digitalisierung an Basler Schulen – persönlicher Computer ab der fünften Klasse. Aargauer Zeitung.
[2] Der Veränderungsprozess der Sekundarschule St. Alban Basel. FHNW.
https://irf.fhnw.ch/bitstreams/f1c49760-b6d7-4d01-a2ad-b376cfc4b616/download
[3] Ergebnisse zu Nutzungsverhalten der Schülerinnen und Schüler des persönlichen eduBS-Books. Kanton Basel-Stadt.
[4] 3'200 Computer-Tablets für Basler Schülerinnen und Schüler. Kanton Basel-Stadt.
[5] Ratschlag betreffend Ausbau der Digitalisierung der Volksschulen. KSBS.
[6] Digital statt auf Papier: Kanton Basel-Stadt will alle Departemente optimieren. BZ Basel.
[7] Evaluation Volksschulen - Basel. Basler Bildungsserver eduBS.
https://www.edubs.ch/schulentwicklung/evaluation-vs
[8] Die Digitalisierung des Unterrichts. Basler Schulblatt.
https://www.edubs.ch/publikationen/baslerschulblatt/artikel/die-digitalisierung-des-unterrichts
[9] Ratschlag Ausbau der Digitalisierung der Volksschulen und des Zentrums für Brückenangebote Basel-Stadt
https://grosserrat.bs.ch/ratsbetrieb/geschaefte/200109761
Die Digitalisierung der Baselbieter Schulen. LVB.